Im Kindergarten
Ich war etwa zweieinhalb Jahre alt als meine Mutter mich das erste Mal im Kindergarten ablieferte. Ich sehe den Boden und die Umkleidekabinen noch vor mir als wäre es heute früh gewesen. Ich fühle mich leicht beunruhigt, aber ich habe nicht direkt Angst. Ich wurde anscheinend von meiner Mutter darauf eingestimmt, dass „wir da heute hingehen“, denn ich war nicht überrascht, sondern ganz gefasst. Ich glaube da machte sich das erste Mal der Widerspruch in meinen Gefühlen bemerkbar, der mich bis heute entzweireißt.
Einerseits bin ich neugierig und fasziniert von Neuem, von neuen Erlebnissen, Eindrücken, Erfahrungen usw. Andererseits liebe ich aber meine Komfortzone und würde am liebsten nie auch nur das gemütliche Bett verlassen (noch mehr seit Abi und Studium passé sind).
Ich weiß aber noch genau, dass ich schließlich doch nicht alleine dort bleiben wollte, aber meine Mutter sprach immer mit so einer Bestimmtheit – ohne im speziellen streng zu sein – dass ich wusste, dass jeder Widerstand zwecklos war. Ich habe soweit ich mich erinnern kann kein Wort gesagt – das sah mir ähnlich – und mich drauf eingelassen. Was dann speziell an diesem ersten Tag geschah, weiß ich nicht mehr.
#Warumwerdeichalleingelassen
Der Glitzerrock und der freche Junge
Die nächste Erinnerung von diesem Ort ist, wie ich meinen Lieblingsrock anziehen durfte – und wie glücklich und stolz ich war. Es war ein schwarzer Faltenrock mit glänzenden Fäden durchzogen. Da wurde ich mir wieder meiner selbst gewahr und meines Umfeldes. Da wurden wieder Gedankenprozesse angestoßen. Ein kleiner Satansbraten fand großen Gefallen daran, aus meinem wunderschönen Rock die Glitzer-Fäden herauszuziehen. Zuerst habe ich es einfach ignoriert – nicht, weil ich es so beigebracht bekommen hatte, sondern weil es meine Art war. Ich fand es keiner Aufmerksamkeit wert. Doch er hörte nicht auf.
Auf einmal war ich wach. Ich war HIER.
Ich nahm den Raum war – da hinten waren 2 Erzieherrinnen, die sich um die Säuglinge kümmerten. Wir saßen im Kreis und haben wohl ein Spiel gespielt. Er saß neben mir und zupfte und zupfte und zupfte. Niemanden schien es zu stören. Ich weiß nicht, ob die Erzieherinnen das überhaupt mitbekamen, aber ich glaube schon, dass ich ihm irgendwann sagte, er solle bitte damit aufhören. Doch ich erinnere mich nicht daran.
Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, warum man sowas tun sollte.
Warum sollte man etwas kaputt machen, was ganz und schön ist?
Warum sollte man etwas kaputt machen, das einem gar nicht gehört?
Warum sollte man einem anderen mutwillig weh tun – denn das schien irgendwie die Absicht davon zu sein, etwas kaputt zu machen…
#WarumsindmancheMeschenschadenfroh
Mittagsschlaf
Die nächste Erinnerung ist, wie ich links an der Wand und von der Tür in meinem Bett liege. An der Tür rechts sitzt an einem Tisch, die Erzieherin und behält uns im Auge – dass wir auch ja alle schlafen!
Ich liege wach, fühle mich fremd und unwohl. Es ist kühl und die Bettwäsche riecht fremd, ich habe auch etwas Angst vor der Frau, die immer so streng guckt und keine Querelen duldet. Das heißt, ich weiß es gar nicht genau, denn es hat noch nie Ärger gegeben, aber sie sieht so aus.
Ich liege da und denke nach. Über diese Situation. Wie ich dahin gekommen bin. Wieso ich da hin muss. Wieso es normal ist, dass ich, dass wir Kinder dort sein müssen, wo wir doch viel lieber Zuhause wären. Warum wir so mit so einer Kälte und so distanziert „umsorgt“ werden. Da war keine Wärme, keine Nähe, man fühlte sich einfach wie ein Störenfried, einfach weil man existierte…
#WarumistdieWeltsowiesieist
Die Hängebrücke, eine tote Katze und die fiesen Mädchen
Ich hatte im Grunde keine Freunde als ich klein war. In unserem kleinen Dorf gab es keine Kinder in meinem Alter also habe ich laut meiner Mutter ab und zu mit den Nachbarskindern gespielt. Zwei davon waren Mädchen, sie waren beide älter als ich – ich muss um die vier-fünf Jahre alt gewesen sein. Eines Tages nahmen sie mich mit, weil sie mir etwas zeigen wollten. Neugierig und abenteuerlustig wie ich war, habe ich mich ihnen sogleich angeschlossen. Es war doch weiter weg als ich dachte, wir liefen die ungepflasterte Straße entlang, bogen in eine Art Waldweg ein.
Bald kam ein seltsamer süßlicher Geruch immer näher und wurde immer strenger, bis wir kurz darauf eine tote Katze am Wegesrand liegen sahen, die schon halb verwest war. Ich habe mich weniger wegen der Tatsache, dass sie tot war, erschrocken, als vielmehr aufgrund der gleichzeitig fremden Umgebung und damit verbunden der leise aufkeimenden Angst die Orientierung zu verlieren, die dadurch ausgelöst wurde, dass ich mich nicht mehr genau an den Rückweg erinnern konnte und nun zu 100% auf diese beiden angewiesen war.
Kein schönes Gefühl, zudem ich sie ja wie gesagt kaum kannte, der Zufall hat uns mehr oder weniger an diesem warmen Sommertag zusammengebracht. Wir gingen weiter und ich wurde immer beunruhigter. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir ein eine Schlucht über die eine lange, wackelige Hängebrücke führte.
Ich weiß nicht wie lang sie wirklich war oder wie breit oder wie tief es hinab ging – mir als Kleinkind kam es vor wie eine gigantische Schlucht, die Brücke war gerade so weit, dass ich mich mit beiden Händchen an den Seilen links und rechts festhalten konnte, um nicht zu stürzen und sie war so lang, dass man das Ende kaum sehen konnte. Wir gingen gemeinsam die Brücke entlang bis ungefähr zur Mitte und dann sind die beiden ohne mich einfach abgehauen und ich stand da alleine und hatte Todesangst.
(Man mag jetzt meinen Eltern vorwerfen, wie unverantwortlich das war, mich einfach alleine herumtreiben zu lassen. Doch im Dorf ist das Leben anders, vor allem in einem winzigen in Sibirien. Mein Vater war Bürgermeister und kaum Zuhause, meine Mutter musste alleine mit einem Säugling (ich war mittlerweile Schwester) den ganzen Haushalt schmeißen. Das bedeutete stündlich Tücher waschen – es gab keine Windeln, sich um das Vieh kümmern (Schweine, Hühner), um den Garten (nicht so kleine wie hier, schon mehrere Quadratmeter hoch und runter plus Blumenbeete), Essen kochen (es gab auch keine Fertiggerichte, zumindest in unserem Haus nicht), das Haus putzen (es mag übertrieben sein, aber bei uns konnte man jederzeit vom Boden essen – nur bei uns, es gab weit und breit kein anderes Haus in Russland, wo man das selbstbewusst tun könnte, außer 200km weiter bei ihrer Mutter) und die Sauna vorbereiten, wen auch nicht jeden Tag, doch auch das dauert länger als einfach Wasser einzulassen.)
Jedenfalls wurde ich mir wieder meiner selbst und meines Seins gewahr.
Ich spürte wie mein Herz schneller schlug und die Panik wuchs. Doch Kinder sind stärker als wir glauben und als sie glauben. Ich habe den Weg zurück alleine gefunden und ich habe offenbar niemandem von diesem Horror-Ausflug erzählt, denn meine Mutter war schockiert als ich ihr vor kurzem davon berichtete.
Ich sagte ihr, dass ich mir mittlerweile nicht einmal sicher sei, ob es nicht doch ein Traum sei, doch sie sagte, dass es tatsächlich so eine Brücke gab und dass sie nie auf die Idee käme, ich hätte jemals den Weg dorthin gefunden. Sie sagte mir auch, dass diese Mädels mich auch bei anderen Spielgelegenheiten ärgerten und sie dem ganzen deswegen recht schnell Einhalt gebot (sie klauten wohl auch meine wenigen Spielsachen).
#warumsindMenschensogemein
Die entfremdete Puppe
Ich hatte etwa vier-fünf Puppen. Ich fand keine davon besonders „schön“, aber alles, was einmal in meinen Besitz wechselt (bis heute) wird ein Teil von mir, das ich nicht lieben muss, dass ich aber nur schmerzlich weggeben kann und das ich noch schmerzlicher grob behandelt wissen möchte.
Ich weiß nicht wieso – und jetzt kommt wieder einer dieser Widersprüche – aber ich habe schon als Kind bereitwillig ohne lange zu überlegen, mit anderen meine Spielsachen geteilt, ja sie sogar „ausgeliehen“ (und noch nie habe ich damit gute Erfahrungen gemacht, wenn ich das jetzt Revue passieren lassen…), obwohl ich eine wie ich sagen würde „unnormale“ Bindung zu ihnen hatte (klar, sie sind ja ein Teil von mir). Ich kann es mir nur durch meinen guten Glauben an die Menschheit bzw. an den Anstand meiner Mitmenschen erklären, dass ich es damals tat.
Wobei ein sehr wichtiger Baustein meines Selbst ist, dass ich (vielleicht aufgrund der bisher beschriebenen Erlebnisse) mich außerordentlich gut in andere Menschen hineinversetzen kann, genauer: ich bin mir schmerzlich bewusst, wie es sich anfühlt, wenn man „leidet“, wenn einem etwas Liebgewonnenes weggenommen wird, wenn man zu Unrecht geärgert wird, falsch verstanden wird, wenn die eigenen Motive falsch interpretiert werden und andere böse auf einen sind, obwohl man nur nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat, wenn man eigentlich sogar etwas Gutes tun, jemandem helfen wollte, doch etwas schief gelaufen ist oder einfach so das Gegenteil eingetroffen ist usw.
Kurzum: all diese klischeehaften Momente, die in schnulzigen Hollywood-Dramen, ‑Dramedys, ‑Comedys, ‑Liebeskomödien etc. stets und ständig verwurstet werden. Tja, aber so ist es eben. Die Momente, wo die Tränen kommen (zumindest bei den sensibleren Naturen, die zumeist aber nicht immer dem weiblichen Geschlecht zuzurechnen sind), die ein jeder von uns kennt und sich entsprechend mit ihnen identifizieren kann, lassen die Kassen klingeln und heben den Wert dieser Filme durch die beigefügte „Moral“ scheinbar an.
Jedenfalls habe ich irgendeinem dieser Nachbarskinder wohl meine Puppe geliehen – und sie lange nicht zurück erhalten und als ich sie endlich wieder kriegte, war sie nicht mehr meine Puppe. Zum einen, weil sie eben zu lange weg war, sie roch anders, sie war schmutzig und hatte womöglich auch etwas anderes an, zum anderen aber – und das ist der Hauptgrund, der sie für immer entfremdete – man hatte ihr ein Loch (!) in den Mund gebracht, um einen Schnuller einführen zu können (der bei einer andren Puppe dabei war). Ich war entsetzt. Ich kann mich sogar noch an einen Alptraum erinnern, den ich hatte.
Ich irre zu Fuß um her, ohne jede Orientierung, gehe zum Nachbardorf auf der Suche nach der Puppe. Ich bin allein und und habe nicht ansatzweise das Gefühl von Erdung oder einfach, dass ich sowas wie „Eltern“ habe oder irgend jemanden, in dessen Schoß ich mich zumindest hypothetisch flüchten könnte. Ich bin aber nicht ängstlich, ich gehe bestimmt dorthin, ich habe bin auf einer Mission: ich will wiederholen was mir gehört. Und dann kriege ich am Ende irgendwie diese Puppe und da ist dieses Loch und es ist wie in einem Horrorfilm in Zeitlupe, dieser Moment, wo man realisiert, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Es ist alles so wie immer, aber etwas Unheilvolles liegt in der Luft und man möchte weglaufen, doch man kann nicht, weil es absurd wäre, denn es ist ja alle „normal“ und so wie immer – bis dann der Geist/das Monster/der Mörder hinter der Ecke hervorspringt und einem das Herz in die Hose rutscht.
Dazu ist es nicht gekommen, aber die Puppe war für mich seitdem „gestorben“ und ich schaute nur mehr gleichgültig und etwas beleidigt zurück, wenn sie an der Wand gegenüber, an fünfter Stelle neben den anderen Puppen, auf dem Regalbrett saß und mich anstarrte. Sie konnte ja eigentlich nichts dafür (!), dass ihr das zugestoßen war, doch ich konnte auch nichts dafür, dass ich sie nicht mehr respektierte.
#warumhabenMenschenkeinenRespektvordemEigentumanderer
Die Monster-Puppe und der Fieberwahn
Das war leider nicht die letzte meiner Puppen, die ich verstoßen habe. Es gab noch eine, die ihre Gunst verloren hatte. Jedoch diesmal nicht durch Verschulden anderer.
Ich sitze mit meiner Familie auf dem Sofa und wir schauen gemeinsam fern (was wirklich wirklich selten vorkam). Ich bin sehr zufrieden mit der Situation und auch dankbar. Solche Momente habe ich mir oft herbei gesehent. Wir schauen also nach rechts in Richtung des Fernsehers, da kommt plötzlich von links, kaum durch den Türrahmen passend, diese Puppe rein – quälend laaaaangsaaam, mit ihrem unbeweglichen, grinsenden Gesicht schaut es mich an und kommt weiter auf mich zu – ein bisschen so wie der Michelin-Mann aus Ghostbusters (weshalb ich den Film schräger-weise später gefeiert habe). Es hat sowas Unnatürliches, Ekliges und darum absolut Beängstigendes an sich, wenn Dinge, die normalerweise klein sind, plötzlich riesengroß sind und dazu auch noch belebt. Die Zeit und die Schritte zogen sich wie Kaugummi, ich habe sie einfach nur teilnahmslos angestarrt, bis zu dem Moment, wo sie wirklich mit dem nächsten Schritt vor mir stünde und ich panisch aufgewacht bin – es war nur ein Traum!!
Seitdem hatte sie ihren Platz in einer Schublade im Wohnzimmer.
Doch der „Vorfall“ hatte Folgen. Seitdem war ich mir nie mehr so recht sicher, was Traum und was Wirklichkeit ist. Es hat einen Schlater umgelegt. Plötzlich schienen geisterhafte Wesen – lebendige Puppen – gar nicht so abwegig zu sein.
#prägendeFieberträume
Was ist real?
Die beiden beschriebenen Erfahrungen führten dazu, dass ich nachts im Bettchen viele Selbstgespräche führen musste. Ich habe gemerkt, dass wenn ich ein paar Sekunden zu lange auf die Puppen auf dem Regal schaute, sie anfingen sich zu bewegen. Ich muss sicher nicht erwähnen wie tief ins Mark mich diese Beobachtung erschütterte! Ich schloss schnell die Augen, schlang meine Decke noch fester um mich – immer bis zu den Ohren und unter die Füße, sodass ich keinen einzigen Luftzug spürte (wie stolz ich mit 15 war, als ich es das erste Mal schaffte, mich im Sommernacht halb aufzudecken erwähne ich sicher noch in einem anderen Beitrag) – und fing an zu zählen, bis ich einschlief.
Das Thema ließ mir natürlich keine Ruhe, da es ja jeden Abend auf’s Neues präsent war: bilde ich mir das wirklich nur ein – oder leben sie doch nachts? Leben sie vielleicht immer und wir denken nur sie seien leblos? Welche Konsequenzen hätte diese Tatsache? Was würde es für mein Leben bedeuten? Was hätte alles, was ich wusste, dann noch für eine Bedeutung, wenn sowas Wichtiges, Grundsätzliches in der Konstruktion meines Weltbildes und meiner Glaubenssätze und Erkenntnisse nicht berücksichtigt wurde?
Diese Erfahrungen und Gedanken werden später noch relevant für die Entwicklung meiner Überzeugungen, Denkweisen etc.
#gibtesgeister
Was ist real?